Guenter Klarner - Geschichten
Zukunftsmusik

"Ist denn bald Ruhe da unten!"
"Schon wieder die!" Martin rümpfte die Nase. "Immer meckert sie rum!" Gerade hatte er ein Tor geschossen. Jetzt stand es eins zu eins. Die Mannschaft von Bruno war ´ne harte Nuss. Bis jetzt jedenfalls. Aber das würde sich ändern. Sie hatten lange trainiert und heute würden sie sie knacken. Oder alle machen. Das hatten sie beschlossen. Tim und Lisa hatten zusammen extra Abzeichen entworfen. Die hatten sie auf Bügelfolie ausgedruckt und dann auf ihre T-Shirts gebügelt. "SÜDVIERTEL TIGERS GANG" stand darauf. Richtig stolz waren sie.

"Wenn jetzt nicht gleich Ruhe ist, ruf ich die Polizei!" hörten sie wieder das Gemeckere. "Hört nicht drauf, die hört schon wieder auf." Tim trat den Ball vor sich her, gab an Lisa ab, die ihn mit einem gezielten Schuss präzise in das Tor hinter Bruno platzierte. "TOOOOR" schrieen die Tigers alle gleichzeitig; glücklich und übermütig tanzten sie auf der Wiese herum.
"Leute, ich muss nach Hause!" Bruno packte seine Sachen. "Ihr gebt auf?" wollte Janin wissen. "Ach was, das gibt ´ne Revanche! Ich muss nur zum Abendessen zu Hause sein." "O.K. Leute - Schluss für heute." Janin hatte ihre Schultasche schon in der Hand. "Bis morgen!" Sie verschwand zwischen den Büschen.

Martin hatte noch etwas Zeit, bis sein Vater aus dem Büro nach Hause kam. Er könnte noch mal zum Kiosk schlendern. Dann entschied er sich aber, doch nach Hause zu gehen.

Im Briefkasten steckte ein Brief. "Familie Riester" stand darauf und als Absender "Vereinigte Wohnungsbaugesellschaft". Er legte ihn auf den Küchentisch zusammen mit der Postkarte von Tante Lena. Aus Portugal kam die. Man, hatte die es gut.
Tante Lena wohnte in Herten. Ganz schwach erinnerte er sich. Dort hatte er mal Plakate gesehen: "Kinderlärm ist Zukunftsmusik" stand darauf. Oder so ähnlich. Starker Spruch, dachte er.
Gleich würde sein Vater nach Hause kommen, also begann er Kaffe zu machen.

"Lies mal," sagte Martins Vater, als er den Brief sinken ließ. Er reichte ihn Martin.

"Sehr geehrter Herr Riester," stand da, "wiederholt erreichten uns Klagen von Mietern der Siedlung Südviertel über unzumutbaren Lärm, der von fußballspielenden Kindern verursacht wird. Wir möchten darauf hinweisen, dass das Fußballspielen auf den Rasenflächen zwischen den Häusern absolut nicht gestattet ist. Nach Auskunft zahlreicher betroffener Mieter haben die Ruhestörungen, insbesondere verursacht durch kreischende und brüllende Kinder - mit und ohne Fußball -, zu denen auch ihre Kinder gehören, ein für die betroffenen Mieter unzumutbares Ausmaß angenommen. Wir bitten Sie, darauf einzuwirken, dass die beschriebenen Lärmbelästigungen sofort aufhören. Andernfalls sehen wir uns gezwungen, eine Auflösung ihres Mietverhältnisses in Betracht zu ziehen."
"Die schmeißen uns raus, wenn ihr weiter so einen Krach macht," sagte sein Vater etwas hilflos. "Willst Du schon wieder umziehen?"
"Wir sind doch gar nicht laut..." wagte Martin einzuwenden, und bei sich dachte er: "Scheiß Alte!"
Es wurde ein ruhiger Abend. Vater war schweigsam und Martin konnte nicht sehen, ob er einfach müde war, oder ob ihn Sorgen wegen drohenden Kündigung drückten. Schließlich hatte er keine Lust mehr, schweigsam da zu sitzen und ging ins Bett.

"Na, gibt`s heute ein Rückspiel?" Bruno war anscheinend heiß drauf, die Schlappe von gestern auszubügeln. "Nix, die Alte aus dem Fenster hat sich bei unserem Vermieter beschwert. Und der will uns nun rauswerfen. Weil wir zuviel Krach machen." Martin erzählte noch von seiner Tante Lena und den Spruch über Kinderlärm, den er in Herten gelesen hatte. Bruno und seine Mannschaft fanden auch, dass der Spruch stark sei.
"Geh`n wir doch auf den Sportplatz," schlug Janin vor.
"Geht nicht, das ist zu weit. Wir müssen noch einkaufen..." Säuerlich machte sich Martin auf den Heimweg.

Am nächsten Morgen war die Aufregung riesengroß: Auf der Hauswand gegenüber stand in großen Buchstaben: "KINDERLÄRM IST ZUKUNFTSMUSIK". Ein Graffiti. Knallrot und unübersehbar. Das würde Zoff geben. Hundertprozentig. Irgendwie war das genial, fand Martin. Und dann schlich sich langsam ein anderer Gedanke in seinen Kopf. Würde nicht jeder glauben, dass er das geschrieben hatte? Martin wurde ganz mulmig zumute. Aufgeregt und abgehetzt kam er in de Schule an. Lisa und Tim warteten schon auf ihn; ohne etwas zu sagen klopften ihm beide anerkennend auf die Schulter. "Klasse," sagte Lisa. Und Tim meinte: "Mutig, echt mutig." Martin verstand nicht. "He!" Bruno kam auf ihn zugerannt. "Das hätt ich jetzt nicht gedacht von dir. Dachte wirklich, du seist ´n Weichei, Mann." War da nicht ein verräterisches Funkeln in Brunos Augen? Langsam ging Martin ein Licht auf. "Ihr meint, ... das ich..., also, nein, das glaubt ihr nicht..."
"Bestimmt steht das morgen in der Zeitung." vermutete Bruno.

Und er hatte Recht.

"Schmierereien und Kindergeschrei sorgen für Ärger" stand da groß als Überschrift.
"Mieter der Südsiedlung sind verärgert." stand darunter. Daneben war ein Foto, auf dem der Spruch "KINDERLÄRM IST ZUKUNFTSMUSIK" zu lesen war. Und dann konnte er dort lesen, dass die Kinder "der Südsiedlung jeden Tag von morgens bis abends einen solchen Lärm verursachen, dass man in der Wohnung sein eigenes Wort nicht mehr verstehen kann." Besonders empört aber seien die Mieter über Schmierereien, die in der Nacht an einer Hauswand aufgetaucht seien.
Und die Mieter hätten dem Vermieter auch mit einer Unterschriftensammlung angedroht, "keine Miete mehr zu zahlen, wenn das so weitergehe."
Das war es. Was die konnten, konnten die "Tigers" schon lange. Eine Unterschriftensammlung. Oder eine Protestversammlung. Oder besser: Eine Protestversammlung und dann eine Unterschriftensammlung. Und einen Artikel konnte er auch schreiben. Für die Schülerzeitung.
Lautstark ging es zu in der Sitzung der Redaktion. Martin hatte seinen Artikel mitgebracht. Stolz war er. Der erste selbstgeschriebene Zeitungsartikel. Eine ganze Seite Text. Den ganzen Nachmittag hatte er daran geschrieben.

"Uns fragt keiner..." hatte er als Überschrift darüber geschrieben. "Warum sollen die uns auch fragen..." meinte Tim. "Haben die doch noch nie gemacht!" "Wer?" wollte Lisa wissen, "wer fragt uns nicht?" "Na keiner, " sagte Martin. Aber so genau wusste er das auch nicht.
"Jedenfalls haben wir nix zu sagen. Und das find ich scheiße... Dabei wohnen wir doch auch hier!"
"Vielleicht fragt die Alte ja auch keiner..." sagte Tim und sah nachdenklich auf das Blatt mit dem Artikel.

November 99


Und die "Alte"? Lies selbst....

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